Um die beschädigten Gebäude zu ermitteln, haben Analysten von „Vertical 52“ Radar-Satellitendaten von vor und nach den Kampfhandlungen ausgewertet. Sie identifizieren Veränderungen auf der Erdoberfläche. Um zu erkennen, was davon Gebäudeschäden sind, wurden die Daten automatisiert mit Gebäudeumrissen abgeglichen. Hat sich das Dach eines Gebäudes – egal, ob Wohnhaus, Bürogebäude oder Schuppen – vor und nach Kämpfen deutlich verändert, wird das als Schaden gewertet.
Mit Satelliten Gebäudeschäden erkennen
Das Modell wurde für Zerstörungen in Gaza validiert. Bei Tests für die Ukraine-Ergebnisse ergab sich eine Genauigkeit von rund 80 Prozent. Die Analyse ist mit Blick auf die Ukraine experimentell. Es kann sein, dass kleinere Schäden übersehen oder intakte Häuser neben zerstörten fälschlicherweise als beschädigt erkannt werden. Hinzu kommt, dass bestimmte Arten von Zerstörung aus der Luft nicht erkennbar sind. Etwa, wenn ein Gebäude von innen komplett ausgebrannt ist, Fassade und Dach aber nicht schwer beschädigt sind.
Um Falscherkennungen zu vermeiden, wurde das Modell so kalibriert, dass nur größere Veränderungen als Schaden eingeordnet werden. Sonst riskiert man etwa, auch Veränderungen wie fehlende parkende Autos als Schaden einzuordnen. Es handelt sich um eine eher konservative Schätzung. Im Fall von Mariupol etwa geht die UN von deutlich höheren Zahlen aus: 90 Prozent der mehrstöckigen und 60 Prozent der kleineren Wohnhäuser Mariupols seien zerstört.
Für die gesamte Ukraine geht die Weltbank in einem aktuellen Bericht von 60 Milliarden US-Dollar Wiederaufbau-Kosten allein für Gebäude aus. Auch Sjewjerodonezk in der Region Luhansk im Nordosten der Ukraine steht seit Juni 2022 unter russischer Hoheit. Rund 1500 Einwohner starben während der Kämpfe um die Stadt.
Die russische Armee nahm die Stadt am 25. Juni 2022 ein. Davor waren Sjewjerodonezk und die Nachbarstadt Lyssytschansk die einzigen größeren Teile der Oblast Luhansk, die noch unter ukrainischer Kontrolle standen. Vor dem Krieg wohnten hier etwa 100.000 Menschen, jetzt sind es nach Angaben der Anwohner nur noch sehr wenige, Schätzungen gehen von 10.000 aus. Wo sollen sie auch leben? 36 Prozent der Gebäude sind der experimentellen Analyse zufolge zerstört.
Sjewjerodonezk war noch nicht erobert, als die russische Armee im Mai 2022 begann, Bachmut anzugreifen. Es sollte die bisher längste Schlacht in diesem Krieg werden und eine der erbittertsten. Das bezeugt auch die Satelliten-Analyse: 66 Prozent aller Gebäude sind beschädigt. Kaum ein Bereich der Stadt ist noch intakt.
Ende Mai 2023 verkündete der Leiter der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, die Eroberung Bachmuts. Nach Angaben des Bürgermeisters von Bachmut, Alexej Reva, lebten am Ende der Kämpfe noch rund 500 Menschen in der Stadt. Vor der Invasion waren es etwa 70.000. Russland hatte eine weitere ukrainische Stadt fast unbewohnbar gemacht – wie viele werden noch folgen?
Das Projekt haben wir mit der russischen Exil-Medienorganisation „iStories“ in Zusammenarbeit mit dem Tagesspiegel Innovation Lab durchgeführt. Die Analyse der Menge zerstörter Gebäudestrukturen basiert auf ESA Sentinel-1-Radardaten. Die Daten wurden vom Tagesspiegel Innovation Lab visualisiert. Die Recherche wird über das Urban Journalism Network veröffentlicht. Der JX Fund hat das Projekt unterstützt.
Polina Uzhvak (iStories), Nina Breher, Hendrik Lehmann, Kirk Jackson, Ilja Sperling, Lennart Tröbs