Vor wenigen Tagen besuchte Wladimir Putin Mariupol. Die ukrainische Stadt, die zu einem Symbol völliger Zerstörung geworden ist. Videos, die vom Kreml veröffentlicht wurden, zeigen den russischen Machthaber, wie er am Steuer eines Autos durch die Stadt fährt. Es ist Nacht. Von Mariupol oder dem, was davon übriggeblieben ist, sieht man nichts. Keine Ruinen, keine Zerstörung.
Am 20. Mai 2022 verließen die letzten ukrainischen Kämpfer die Stadt im Süden des Landes, am Asowschen Meer. Mit Bussen wurden sie vom Gelände des Asow-Stahlwerks gebracht, wo sie sich wochenlang verschanzt hatten. Seit diesem Tag steht Mariupol unter russischer Besatzung, seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Oblast Donezk ist sie nach russischem Recht ein Teil Russlands.
Während der dreimonatigen Belagerung wurde Mariupol schwer getroffen, so schwer wie kaum eine andere Stadt. Rund 90 Prozent der Gebäude sind beschädigt oder zerstört, sehr viele können nicht repariert werden.
Früher wohnten hier knapp 450 000 Menschen, etwa 120 000 sind geblieben. Es ist nicht klar, wie viele Menschen während der Belagerung getötet wurden: Moskau spricht von 3000 getöteten Zivilisten, wahrscheinlich sind es viel mehr. Ukrainische Zählungen gehen von 25 000 Opfern aus.
Jetzt, zehn Monate nach dem Ende der Belagerung, liegt die Hafenstadt etwa 90 Kilometer hinter der Front. Was nach außen dringt, stammt fast ausschließlich vom russischen Propagandaapparat. Doch mit Hilfe von Satellitenaufnahmen und Fotos kann man einen Einblick davon gewinnen, was die russischen Besatzer in der Stadt tun. Auf Ruinen soll ein neues, ein russisches Mariupol errichtet werden.
Am Beispiel von vier Orten, einem neuen Bezirk, dem Theater, dem Stadtpark und einer Straße, erklären wir, was die Besatzer in Mariupol gerade machen, wie sie die Stadt verändern und auf was sie dabei besonders Wert legen. Bei seinem Besuch fährt Putin durch die Kuprina Straße im Westen der Stadt. An dieser Straße wurde von den Besatzern in kurzer Zeit ein neuer Mikro-Stadtbezirk hochgezogen. Newskyj heißt er, ein Vorzeigeobjekt der Besatzer. Noch im Mai 2022 war zwischen einigen großen Hallen nur eine circa 90 000 Quadratmeter große grüne Wiese.
Ein Jahr später stehen hier, das zeigen die Satellitenbilder, sieben strahlend weiße Wohnblocks. Die benachbarten Hallen sind größtenteils zerstört, große Löcher klaffen in den Dächern.
Auf Videos und Bildern sind die Gebäude aus der Nähe zu sehen. Russische Fahnen hängen an jedem Wohnblock, das Gras ist neu angepflanzt, die Straßen frisch geteert. Es wirkt wie eine Kulisse.
Gebaut hat den Mikrobezirk das russische Verteidigungsministerium, genauer die militärische Baugesellschaft des Ministeriums, die normalerweise Flugplätze oder Kasernen errichtet. In Mariupol sind es Wohnsiedlungen, auch ein Krankenhaus soll entstehen.
Mariupols Exil-Bürgermeister Wadym Bojtschenko sagte der BBC, es sei kein Zufall, dass sich viele der von den Besatzern gebauten Gebäude an den Rändern der Stadt befänden. „Sie bauen das nur, um vermeintlich zu beweisen, dass die von ihnen verbreitete Version dessen, was in Mariupol passiert, wahr ist. Aber sie lügen. Sie haben die Stadt zerstört. Die Stadt existiert nicht mehr. Es braucht 20 Jahre, um sie wiederaufzubauen.“ Auch sein Berater, Petro Andrjuschtschenko, spricht von Inszenierung. In den neuen Häusern würden hauptsächlich Angehörige des russischen Militärs untergebracht. Die Einwohner Mariupols müssten weiter in zerstörten Häusern leben.
Wie schnell der Newskyj-Bezirk aus dem Boden gestampft wurde, ist nicht gesichert, das Verteidigungsministerium spricht von 80 Tagen, bereits im September 2022 seien die ersten Menschen eingezogen. Ganz so schnell ging es wohl nicht, die Geschwindigkeit ist dennoch bemerkenswert. Auch Putin lässt sich diesen neuen Mikrobezirk zeigen. Der stellvertretende russische Premierminister Marat Chusnullin, zuständig für den Wiederaufbau in den besetzten Gebieten, begleitet ihn, hat Faltpläne dabei, zeigt Putin, wo Schulen gebaut werden sollen, wo Kindergärten.
Putin spricht auch mit Menschen, die als Anwohner ausgegeben werden, festgehalten auf Video und später auf der Internetseite des Kremls veröffentlicht. Sie bedanken sich, eine Frau sagt: „Das ist ein kleines Stück vom Himmel hier“. Doch irgendwann kann man aus der Ferne plötzlich leise den Ruf einer anderen hören: „Das ist alles Lüge, alles ist inszeniert.“ Die Umstehenden reagieren erschrocken: Chusnullin und einige andere Männer drehen sich hektisch um, versuchen herauszufinden, woher die Rufe kommen.
Zwei Tage später, als das Video im Internet bereits Tausendfach geteilt worden war, wird es von der Kreml-Seite gelöscht und in einer bearbeiteten Version, ohne den Ruf, wieder veröffentlicht. Am linken Ufer des Kalmius liegt das Asow-Stahlwerk, dahinter die Wohnviertel des Bezirks Liwobereschnyj mit den vielen Wohnblöcken und dem Kulturpalast in der Asowstalstraße. Viele, die hier lebten, haben früher im Stahlwerk gearbeitet. Während der Belagerung gab es heftigen Beschuss, Panzer fuhren durch die Siedlung, viele Wohnblöcke wurden zerstört.
Satellitenaufnahmen aus dem September 2022 zeigen, wie schwer die Asowstalstraße getroffen wurde. Dächer von Dutzenden Häusern sind beschädigt, Artilleriegeschosse haben Teile einiger Häuser einfach weggerissen. Auch das Haus mit der Nummer 33 ist getroffen. Noch Monate nach dem Video stehen die drei Autowracks vor dem Haus.
Ein paar Monate später, im Januar 2023, sind die Asowstalstraße Nummer 33 und die Häuser daneben weg. Auf Satellitenbildern kann man noch erahnen, wo mal die Wohnblöcke gestanden haben. Neben den Baugruben stehen noch die gelben Bagger.
Die Häuser werden auch auf einer Liste aufgeführt, die das Bauministerium der sogenannten Volksrepublik Donezk verbreitet hat: Dort sind Hunderte Häuser aufgelistet, die offenbar nicht mehr repariert werden können und deshalb abgerissen werden sollen. Dass die russischen Besatzer die zerstörten Häuser abreißen, mag nicht überraschend sein. Der Exil-Bürgermeister Bojtschenko erhebt aber einen schweren Vorwurf: Russland verwische damit die Spuren der Kriegsverbrechen, die sie in Mariupol begangen haben. Unter den Trümmern vieler Häuser, behauptete Bojtschenko im Februar, lägen noch immer getötete Zivilisten, die gemeinsam mit dem Bauschutt einfach weggeräumt würden. Die Aussage lässt sich nicht überprüfen.
Zu einem Mahnmal für die Grausamkeit des russischen Angriffskrieges sind die Überreste des Theaters von Mariupol geworden. In weißen, großen kyrillischen Lettern hatten sie auf den Platz vor dem Theater das Wort „Дети“ – Kinder geschrieben.
Das Theater war kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen von der Stadtverwaltung Mariupols als eines der Gebäude ausgewiesen worden, in dem die Bevölkerung vor Luftangriffen Schutz suchen sollte. 1300 sollen es zwischenzeitlich gewesen sein.
Doch am 16. März wurde das Theater von mindestens einer Bombe, abgeworfen von einem russischen Flugzeug, schwer getroffen.
Eine Rekonstruktion der Nachrichtenagentur AP kam zu dem Schluss, dass 600 Menschen unter den Trümmern ihr Leben verloren haben könnten. Wie hoch die Zahl der Opfer genau war, lässt sich nicht mehr ermitteln. Die geborgenen Leichen wurden in Massengräbern bestattet.
Noch im August 2022, Monate nachdem die letzten ukrainischen Kämpfer die Stadt verlassen haben, kann man auf dem Platz vor dem Theater das Wort „Kinder“ lesen.
Monate nach der Bombardierung haben die russischen Besatzer dieses Mahnmal verschwinden lassen. Anfang Dezember 2022 wurde um das Theater ein Gerüst errichtet und darüber eine Plane gespannt. Bedruckt ist sie mit Porträts von russischen Dichtern. Alexander Puschkin und Leo Tolstoi sind zu sehen. Die Ruine wird mit einer Technik, die bekannt ist von den sprichwörtlichen potemkinschen Dörfern, zu einer Simulation von Kultur und Wiederaufbau.
Für viele Ukrainer muss es da wie Hohn wirken, dass auch der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko auf der Plane zu sehen ist. Dahinter wird die Gebäuderuine, das sichtbare Zeichen für ein Kriegsverbrechen, Stein für Stein abgetragen. Ob das Theater jemals wiederaufgebaut wird, ist unklar.
Für Putin ist Mariupol militärisch wichtig. Nach der Eroberung wurde die Stadt nach und nach zu einem Logistikzentrum umgebaut. Für den russischen Machthaber hat sie aber vor allem eine große symbolische Bedeutung. Das hat sein Besuch gezeigt. Nach dem Rückzug aus Cherson ist die Stadt am Asowschen Meer die einzige Großstadt, die Russland seit dem 24. Februar erobern konnte. Sobald hier ein neuer Wohnblock steht, wird er triumphierend im russischen Fernsehen vorgeführt. An Mariupol will Moskau exemplarisch vorführen, wie die besetzten Gebiete russifiziert werden sollen. Die Spuren ukrainischer Geschichte und Kultur werden zerstört. Wer hier seine Rente haben will, braucht einen russischen Pass, die Stadt wurde der russischen Zeitzone zugeordnet, von Moskau werden Ärzte, Handwerker oder Beamte entsandt. Und die Baupläne sind von gewaltigen Dimensionen. 875 Hektar Wohnraum sollen bis 2035 geschaffen werden, so steht es in einem geleakten Dokument der staatlichen russischen Planungsbehörde. Der Hafen und das historische Zentrum sollen wiederaufgebaut werden und dort, wo das Asow-Stahlwerk stand, soll laut russischen Angaben ein Technologiepark entstehen.
Das alles erinnert an Grosny, die Hauptstadt Tschetscheniens, in zwei Kriegen von Russland völlig zerstört, dann mit viel Geld aus Moskau wiederaufgebaut. Hier hat sich Putin zumindest oberflächlich das Wohlwollen der Bevölkerung erkauft. Ob das auch in Mariupol gelingt, ist keineswegs sicher. „Es ist eine Schande, dass Putin nicht zu unserem Haus im Liwobereschnyj-Bezirk gekommen ist“, schrieb eine Anwohnerin dieses stark zerstörten Stadtteils laut dem unabhängigen Portal Mozhem Obyasnit (Можем объяснить) auf Telegram. „Keine Fenster, keine Türen, kein heißes Wasser oder Heizung. Hier hätte er mit ‚lokaler Bevölkerung‘ reden können.“